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DER KONSTRUKTEUR 12/2020

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DER KONSTRUKTEUR 12/2020

LEICHTBAU & BIONIK DAS

LEICHTBAU & BIONIK DAS POTENZIAL DER KIESELALGE AUSSCHÖPFEN SPECIAL Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Einzeller ein gutes Vorbild für den Leichtbau sein können? Am Alfred Wegener Institut des Helmholtz Zentrums für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven lässt sich ein Team aus Forschern vom Blick durchs Mikroskop in dieser Hinsicht inspirieren. In Form einer Ausgründung ist 2018 ein Start-up entstanden, das eine disruptive Engineering-Software für die Leichtbau- Konstruktion entwickelt hat. Wir haben mit Dr. Christian Hamm, dem Initiator des Forschungsprojekts Elise und Leiter des Bionischen Leichtbaus am AWI gesprochen. Was kann die Bionik zum Leichtbau beitragen? Bionik ist vor allem für nachhaltigen, multifunktionellen Leichtbau die Methode der Wahl. Zwar entwickeln sich rein mathematische Ansätze sehr schnell und bieten hervorragende Lösungen für viele Standardentwicklungen. Aber die lange Entwicklungszeit, die die Evolution in biologische Strukturen gesteckt hat, zahlt sich aus: Jede Generation beinhaltet Optimierungsschritte, d. h. Variationen der vorherigen Version werden gnadenlos realen Tests unterworfen. Dabei werden Eigenschaften wie Crash, Robustheit, Dauerfestigkeit, Schwingungsoptimierung und weitere in die strukturellen Lösungen integriert, falls sie für das Überleben des jeweiligen Organismus vorteilhaft ist. Die Gesamtheit solcher Eigenschaften wird in der Natur kontinuierlich getestet, ist aber extrem schwer und aufwändig zu berechnen. Ein systematische Einsatz von Bionik bietet also den Vorteil, dass komplexe Herausforderungen wesentlich effizienter gelöst werden können, als die mit rein mathematischen Methoden und der verfügbaren Rechenleistung möglich ist. Worum geht es bei Elise? Entstanden ist Elise als Möglichkeit, biologische Bauprinzipien systematisch in Leichtbauprodukte zu überführen. Der Name Elise ist ein Akronym für „Evolutionary Light Structure Engineering“ 38 DER KONSTRUKTEUR 2020/12 www.derkonstrukteur.de

LEICHTBAU & BIONIK Das Verfahren ist im Prinzip aufgebaut wie ein klassischer Produktentwicklungsprozess, hat aber 3 Besonderheiten: Erstens: Es werden Designprinzipien aus der Natur – genauer gesagt von Kieselalgen und Radiolarien – eingesetzt, die komplex und besonders leistungsfähig sind. Zweitens: Diese werden mit Hilfe geeigneter Optimierungsverfahren (genetische Algorithmen, DoE) hinsichtlich des jeweiligen Lastfallkollektives angepasst. Drittens: Es werden (oft) mehrere Optimierungsläufe auf der Basis unterschiedlicher Design prinzipien parallel durchgeführt. Dieses Verfahren wurde am AWI in verschiedenen Branchen in über 50 Projekten und Aufträgen erfolgreich durchgeführt. Es wurde auch patentiert und bildete die Basis für die VDI-Richtlinie 6224-3. Allerdings sind diese Entwicklungen vergleichsweise aufwändig und besonders für umfangreiche Projekte geeignet. Unsere Industriepartner waren begeistert von den Ergebnissen, gaben uns aber UNSERE SOFTWARE KANN DIE ENTWICKLUNGSZEITEN FÜR ANSPRUCHSVOLLE BAUTEILE ERHEBLICH VERKÜRZEN auch zu verstehen, dass sie uns nicht hunderte solcher Aufträge geben können, sondern eine für sie selbst nutzbare Lösung wesentlich effizienter und daher attraktiver fänden. So entstand die neue Elise: Die Elise-Software, die die Basis für die Elise GmbH bildete. Die Software deckt genau die oben erwähnten Anforderungen ab: Mit ihr ist es möglich, den Entwicklungsprozess für neue Bauteile dramatisch zu beschleunigen und gleichzeitig deutlich leistungsfähigere Ergebnisse zu erzielen. Das sehen auch rennomierte Investoren und Kunden so, die die Entwicklung der Software substanziell unterstützen und begleiten. Inzwischen ist die Version Elise 2.0 auf dem Markt. Warum gerade die Kieselalge? Haben Sie schon mal Kieselalgen unter dem Mikroskop betrachtet? Da sehen Sie sofort, dass die Schalen hervorragend gebaute mechanische Systeme sind. Im Vergleich ist das Anforderungsprofil für Kieselalgenschalen einfacher als das der meisten anderen Organismen: Sie müssen sehr leicht gebaut und widerstandsffähig gegenüber (zugegebenermaßen unterschiedlichen) Lasten sein. Sie haben bei ca 100 000 Arten ein riesiges Reservoir and Designprinzipien. Sie sind hoch komplex gebaut und dadurch sehr leistungsfähige mechanische Systeme. Sie integrieren mehrere mechanische Anforderungen. Sie sind ausgesprochen ästhetisch. Kieselalgen und Radiolarien sind schon lange Quellen der Inspiration, u. a. für berühmte Architekten und Bauingenieure wie Sir Buckeminster Fuller oder Frei Otto. Aber erst in der heutigen Zeit haben wir die Berechnungs- und Produktionsmethoden, um ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Was ist die besondere Herausforderung an bionischer Produktentwicklung? Bei einer solchen Produkteentwicklung haben Sie haufenweise Probleme, und zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen: n In der Regel wissen Sie nicht genau, für welche Anforderungen natürliche Systeme entwickelt sind. Wir sind zwar sicher, dass die mechanische Widerstandsfähigkeit der Diatomeenschalen bei allen Arten hervorragend ist. Warum aber gibt es 100 000 verschiedene Arten? Wie unterscheiden diese sich im Detail? Daran werden wir noch lange arbeiten müssen. n Sie müssen entscheiden, welche Bauprinzipien für welche mechanischen Probleme (Schubschicht, Crash, Robustheit, Eigenfrequenzanpassung) geeignet sind. n Sie müssen das Wissen auf technische Bauteile mit anderen Dimensionen, Formen, Materialien und Lastfällen. Hierzu ist eine aufwändige parametrische Optimierung notwendig. n Die vorangegangenen Schritte müssen von Entwicklern ohne Spezialwissen in Bionik effizient zu bewältigen sein. n Sowohl der Entwicklungsprozess als auch die dabei entstehenden Bauteile müssen wirtschaftlichen Anforderungen genügen. Wir haben uns deshalb dazu entschieden, die ersten beiden Punkte am AWI zu erforschen (u. a. mit Unterstützung modernster Mikroskopiemethoden und KI), während die restlichen Punkte durch die integrative Elise-Software abgedeckt werden. Was kann die Software leisten? Die Software ermöglicht es den Entwicklern, auch komplexe Bauteile viel schneller zu entwickeln und auch bessere Leistungsdaten zu erreichen. Dieser Schritt ist notwendig, denn die Anforderungen an die Produktentwicklung steigen aktuell rasant: war es früher in der Regel ausreichend, technische ausgereifte Bauteile zu entwickeln, sollen heute bei der Entwicklung Leichtbau, Nachhaltigkeit (u. a. Ressouceneffizienz und Rezyklierbarbeit), extreme Wirtschaftlichkeit, Sicherheit und andere Parameter berücksichtigt werden. Darüber hinaus können inzwschen auch komplexe Bauteile maßgeschneidert für Einzelanwendungen und Kleinserien gefertigt werden. Diese Anforderungen und Möglichkeiten machen den Entwicklungsprozess extrem anspruchsvoll. Genau hier setzt die Elise-Software an. Welche Vorteile kann das Konstrukteuren im Maschinenbau bringen? Generell ist die Elise-Software branchenübergreifend nutzbar. Sie ist besonders dann stark, wenn es darum geht, die Entwicklungszeiten für anspruchsvolle Bauteile erheblich zu verkürzen. Auch wenn Bauteile in unterschiedlichen Varianten, aber mit prinzipiell ähnlichen Anforderungen benötigt werden, können diese in kürzester Zeit generiert werden. Dieses Leistungsprofil passt hervorragend zum Maschinenbau. Denn das Leistungsspektrum des Deutschen Maschinenbaus entwickelt sich rasant und ist gleichzeitig zunehmend harter internationaler Konkurrenz ausgesetzt. Hier bietet die Elise-Software Konstrukteuen bei der Entwicklung neuer Produkte entscheidende Wettbewerbsvorteile. Welche Potenziale sehen Sie für die Zukunft noch in der Bionik speziell im Maschinenbau? Der Maschinenbau hat ein besonders vielfältiges Anforderungsprofil, das sich ständig erweitert: Leichtbau, komplexe dynamische Lasten, Schwingungen, hohe Zuverlässigkeit, Preis, Nachhaltigkeit. Dazu kommen Anpassungen, die z. B. durch neue Fertigungsverfahren und Materialentwicklungen möglich, aber auch notwendig werden. Diese Konstellation ist besonders geeignet für den Einsatz von Bionik, weil sie zur Realisierung solcher hoch komplexen Entwicklungen wie gesagt aufgrund der viele Millionen Jahre andauernden evolutiven Optimierung effizienter ist als rein mathematische Methoden. Und das wird – trotz Quantencomputern – noch eine Weile so bleiben. Bild: AWI www.awi.de Das Interview führte Martina Klein, stv. Chefredakteurin. www.derkonstrukteur.de DER KONSTRUKTEUR 2020/12 39