Aufrufe
vor 2 Jahren

DER KONSTRUKTEUR 7-8/2021

  • Text
  • Supplement
  • Anwender
  • Einsatz
  • Komponenten
  • Roboter
  • Schnell
  • Montage
  • Unternehmen
  • Anwendungen
  • Konstrukteur
DER KONSTRUKTEUR 7-8/2021

INTERVIEW INTERVIEW

INTERVIEW INTERVIEW MENSCHEN UND MÄRKTE NICOLE STEINICKE: Was zeichnet den türkischen Maschinenbau aus? Wo liegen seine Stärken? KUTLU KARAVELIOGLU: Die Maschinenbauindustrie in der Türkei ist geprägt von überwiegend kleinen, aber auch mittelständischen Unternehmen (KMU). Das liegt daran, dass unsere Industrie beispielsweise im Vergleich zu Deutschland noch recht jung ist. Bis zur Corona- Pandemie war dies zu unserem Nachteil. Denn um ein Global Player zu sein, ist es häufig Voraussetzung, auf eine lange Unternehmenshistorie zurückblicken zu können. Mittlerweile sieht die Lage anders aus. Denn junge Unternehmen sind oft flexibler und können schneller auf sich ändernde Marktbedingungen und Bedürfnisse ihrer Kunden reagieren. Maschinenbauunternehmer in der Türkei sind offen gegenüber neuen Technologien und warten sogar ungeduldig darauf, ihre Entwicklungen zum Einsatz bringen zu können. Und genau das ist ein Vorteil im weltweiten Wettbewerb: Neugier, Interesse und Tatendrang. Die Dynamik in der jungen Generation ermöglicht es ihnen, sich international beweisen zu können. Türkische Maschinenbauer produzieren in 23 Wirtschaftszweigen, können auf ein hervorragendes Zulieferer-Netzwerk zurückgreifen und leisten branchenübergreifenden Support. Damit bedienen sie ein breites Spektrum im Ökosystem der Fertigungsindustrie weltweit. NICOLE STEINICKE: Wie sieht die Entwicklung auf dem türkischen Maschinenmarkt im Vergleich zu den weltweiten Entwicklungen anderer Länder wie China, USA und Europa aus? KUTLU KARAVELIOGLU: Hierzu kann ich keine pauschale Antwort geben, versuche aber gerne auf die einzelnen Länder und Ländergruppen einzugehen. In China beispielsweise gibt es enorme staatliche Unterstützungen und es herrscht großer Protektionismus. Im Low-Technology- Segment ist China daher unschlagbar. Dies hat zur Folge, dass die Türkei kaum Waren nach China exportiert. Denn wir würden insbesondere im Low- Technology-Bereich mit unseren chinesischen Mitbewerbern konkurrieren. Nur durch eine Liberalisierung des chinesischen Marktes könnte ein fairer Wettbewerb für die Türkei und Europa entstehen. Betrachten wir die USA, konnten wir bis zur Corona-Pandemie mit unserer Exportquote zufrieden sein. Mit der Pandemie ist der Bedarf an Maschinen und Anlagen für den US-Luftfahrtsektor jedoch zurückgegangen und die Arbeitslosigkeit angestiegen. Der US-Markt spielt für die Türkei eine wichtige Rolle. Denn die in die USA exportierten Maschinen haben einen hohen Wert schöpfungsanteil und unsere Exportpreise pro Einheit sind auf einem guten Niveau. Zudem werden gegenseitige Investitionen getätigt. Europa müssen wir detaillierter betrachten. Der für uns wichtigste Markt in Europa ist Deutschland, und zwar nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als wichtiger Partner und Leistungsträger. Die Maschinenexporte nach Deutschland sind in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Gleichzeitig sind unsere Importe aus Deutschland relativ hoch. Wir erwarten, dass sich die Handelsbilanz in naher Zukunft einpendeln wird. Denn das ist nicht nur für nachhaltige Beziehungen wichtig, sondern auch für die bilaterale Partizipation der gegenseitigen Stärken. Länder wie Italien, Frankreich und die Niederlande sind ebenfalls wichtige Handelspartner für uns. Zusammenfassend würde ich sagen, dass China im fairen Wettbewerb nicht als Gefahr eingestuft werden sollte; Deutschland ist und bleibt in Sachen Technologie unser Vorbild, von dem wir viel lernen können. NICOLE STEINICKE: Worin sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen, einerseits bedingt durch die Schwierigkeiten der Corona-Pandemie, andererseits durch den internationalen Wettbewerb? KUTLU KARAVELIOGLU: Das Corona-Virus hat uns gezeigt, wie sensibel und zerbrechlich die Welt ist, in der wir leben. Kategorisierungen zwischen Industrie, Natur, Gesellschaft und Mensch wurden überflüssig und wir haben erkannt, dass es um das große Ganze geht und wir eine umfassende Herangehensweise und Umgangsart mit Umwelteinflüssen wie der aktuellen Pandemie benötigen. Wir haben feststellen müssen, dass die Menschheit in keiner Weise auf eine derartige Pandemie vorbereitet ist. Beim Thema Wettbewerb sind alle internationalen Wirtschaftsakteure sehr routiniert. Aufgrund der Globalisierung wissen wir, wie klein die Welt doch ist, was, wo und wie produziert werden muss. Auf der anderen Seite hat die Pandemie uns Maschinenbauer gelehrt, dass Produkte nicht über den Preis, sondern über ausgezeichnete Technologie und Zuverlässigkeit vermarktet werden: „Erhöhe deine Preise, aber nicht das Risiko“. Die Zeiten, in denen immer mehr Kompromisse in Bezug auf Qualität, sprachliche Barrieren oder Zeitzonen gemacht wurden, sind 32 DER KONSTRUKTEUR 2021/07-08 www.derkonstrukteur.de

KONSTRUKTIONSELEMENTE vorbei. Die Beziehungen gen Osten sind auf dem Abwärtstrend und Europa konzentriert sich wieder auf den eigenen Beschaffungsmarkt. Wir müssen die Probleme, die sich durch uns Menschen, durch die Natur und durch unsere Gesellschaft entwickelt haben, nun aus einer anderen Perspektive betrachten. Der europäische Green Deal und die Digitalisierungsstrategien Europas geben uns hier Anhaltspunkte. NICOLE STEINICKE: Was erwartet uns in 2021? KUTLU KARAVELIOGLU: Während wir 2020 noch die Covid- Fallzahlen beobachteten, verfolgen wir dieses Jahr die Zahl der geimpften Personen – das bringt Hoffnung und gleichzeitig Ungeduld. Experten erwarten ein globales Wirtschaftswachstum von 4 %. Der Handel von Waren und Maschinen soll um etwa 8 % steigen. Dennoch erreichen wir noch nicht das Niveau von 2019. Der Vergleich Q1-2019 vs. Q1-2021 zeigt, dass wir die Exporte um 750 Mio. USD steigern und die Pandemie hinter uns lassen konnten. Zum Jahresende wird ein Anstieg der Exporte um 13 % erwartet, sodass wir ein Exportvolumen von 21 Mrd. USD erreichen sollten. Der Anteil Deutschlands wird hier 15 % sein. Gleichzeitig werden wir aus Deutschland Waren im Wert von 4,5 Mrd. USD importieren. NICOLE STEINICKE: Sie sprechen davon, jetzt die richtigen Strategien, Konzepte und Business-Modelle auszuarbeiten. Wie möchten Sie hier vorgehen? KUTLU KARAVELIOGLU: Es gibt keine pauschal anwendbare globale Strategie. Was ich aber sagen kann ist, dass die kommenden Maßnahmen aktuelle Faktoren wie Klimawandel, Digitalisierung, Naturkatastrophen, Energieressourcen sowie Migrationsbewegungen und die damit verbundenen Erschwernisse für die Branche mitberücksichtigt werden müssen. Auf der anderen Seite müssen Herausforderungen wie die Marktwirtschaft China und Handelskriege mit einfließen. Wir leben in einem schwierigen Zeitalter und müssen in unseren Lösungsstrategien neu denken. Dabei steht beispielweise der Ausbau von Kooperationen ganz weit oben auf der Agenda. Denn nur gemeinsam sind wir stark. NICOLE STEINICKE: Besorgniserregend sind die steigenden Importe aus China. Im Verhältnis zu 2019 sind diese im Jahr 2020 um 49,9 % gestiegen. Man geht davon aus, dass China die offensiven Exportstrategien fortsetzen wird. Wie kann man sich dagegen behaupten? KUTLU KARAVELIOGLU: Ich hoffe, dass die hohe Importquote aus China pandemiebedingt ist. Denn wie wir wissen, ist China am schnellsten zur Normalität zurückgekehrt, während viele Länder noch im Shutdown waren und nicht produzieren konnten. China hat diese schwierige Lage für sich genutzt und ist voll durchgestartet. Dennoch gehe ich davon aus, dass diese Entwicklung nicht nachhaltig sein wird. In einem ausgeglichenen Wettbewerb unter selbigen Voraussetzungen wäre China mit seinen Exporten sicher nicht so durch die Decke gegangen. China muss die Grenzen öffnen sowie indirekte Staatshilfen und Finanzierungen stoppen. Kurzum: China den Rücken zu kehren, wäre der falsche Weg, situationsbedingt ist es aber die logische Konsequenz. Wir müssen also dafür sorgen, dass China seine Türen öffnet und ein Miteinander in einem fairen Wettbewerbsrahmen möglich wird. NICOLE STEINICKE: Neben den Herausforderungen der Globalisierung müssen sich gerade auch kleine und mittelständische Unternehmen mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzen. Was bedeutet das für die Unternehmen? KUTLU KARAVELIOGLU: Natürlich beschäftigen sich unsere Unternehmen aktiv mit dem Thema Digitalisierung. Aber wir sind noch am Anfang, auch wenn der Begriff Industrie 4.0 dieses Jahr sein 10-jähriges Jubiläum feiert. Die Nase vorn haben hier die Branchen Konsum güter und Finanzwesen, gefolgt von der Produktionsgüterindustrie. Das ist nicht nur bei uns in der Türkei so. Bis auf wenige Ausnahmen der EU-Mitgliedsstaaten ist die Situation ähnlich. Aus meiner Sicht ist es wichtig, die Basis und Infrastruktur zu schaffen, auf der die Digitalisierung der Unternehmen aufsetzen kann. Was müssen Unternehmen tun, wie müssen sie die digitale Transformation angehen? Wichtig ist, ein „digitales Verständnis“ zu entwickeln und dazu haben wir ein „Glossar“ in Türkisch, Englisch und Deutsch herausgebracht. Schauen Sie einfach einmal unter folgendem Link und stöbern Sie ein wenig: www.digital-glossary.com. Als nächstes folgt ein „Digitalisierungs-Guide“, der die unterschiedlichen Branchen beleuchtet. NICOLE STEINICKE: Wie weit ist der Maschinenmarkt im Bereich der Digitalisierung, beispielsweise mit „Machine Learning“? Diese Technologie gilt als wegweisend für Maschinen und Anlagen der Zukunft. KUTLU KARAVELIOGLU: Machine Learning und Deep Learning sind für unsere Branche sehr wichtig. Um diese Technologien sinnvoll nutzen und weiterentwickeln zu können, benötigen wir eine stabile Infrastruktur. Der Bedarf an 5G-Technologie ist in diesem Zusammenhang hoch! Solange 5G nicht flächendeckend verfügbar ist, können wir diesen Wandel aus meiner Sicht nicht effizient umsetzen. Bisher sind wir sehr gut DIE MASCHINENEXPORTE AUS DER TÜRKEI HABEN SICH IN DEN VERGANGENEN 19 JAHREN VERZEHNFACHT aufgestellt im Bereich digitaler Service-Dienstleistungen, Predictive Maintenance und Condition Monitoring mit IIoT. Unser Ziel ist jedoch, Maschinen und Anlagen mit Intelligenz auszustatten und Entwicklungen z. B. in der kollaborativen Robotik voranzutreiben. Wir fordern daher technische Open- Source-Software-Lösungen, damit auch KMU hiervon partizipieren können. NICOLE STEINICKE: Wo können sich Unternehmen über den türkischen Maschinenbau informieren und wie kommen Sie an konkrete Hilfestellung? Wie bereits eingangs erwähnt, ist Deutschland in jeder Hinsicht ein attraktives Partnerland für türkische Maschinenbauer. Damit wir die Aktivitäten und Entwicklungen unmittelbar verfolgen können, haben wir seit vielen Jahren in Braunschweig eine Niederlassung. Herr Ahmet Yilmaz ist als Deutschland Repräsentant mit seinem Team vor Ort und steht in stetigem Austausch mit Unternehmen, Organisationen, Institutionen und diversen Partnern von Turkish Machinery. Sie unterstützen gerne bei allen Vorhaben und Fragen rund um den türkischen Maschinenbau und sind erreichbar unter folgender E-Mail- Adresse: deutschland@turkishmachinery.org Bilder: Aufmacher muratart – stock.adobe.com & Onidji – stock.adobe.com; 01: Turkish Machinery, 02: czdistagon@rambler.ru Das Interview führte Dipl.-Ing. (FH) Nicole Steinicke, Chefredakteurin, Der Konstrukteur http://turkishmachinery.org/de www.derkonstrukteur.de DER KONSTRUKTEUR 2021/07-08 33